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Keine teuere Medizin mehr für die Alten?
Im Nachbarland Schweiz fällt ein Tabu

Basel/Bern

Keine teueren medizinischen Behandlungen mehr für Alte mit schlechten Heilungschancen? In der Schweiz wird diese Frage von Ärzten und Politikern erstmals offen diskutiert. Auslöser für die Kontroverse ist der Fall eines 70jährigen Patienten, dem man in einem Baseler Krankenhaus aus Kostengrün- den die Behandlung mit dem teueren Blutgerinnungsmittel „Novo Seven” verweigert haben soll. Das Leben des betagten Patienten konnte zwar schließlich mit einem preiswerteren Mittel gerettet werden. Doch das Tabu der Rationalisierung lebensrettender medizinischer Maßnahmen ist gebrochen.

Anders als in Deutschland, wo die Krankenkassen grundsätzlich alle lebensret- tenden Mittel bezahlen müssen, stehen in der Schweiz auch lebenserhaltende Arzneimittel wie „Novo Seven” nicht auf der Kassenliste. Kommt es also etwa zu einer Behandlung mit dem Blutgerinnungsmittel, die bis zu 500 000 Franken (ca. 605 000 Mark) kosten kann, geht dies zu Lasten des Klinik-Budgets.

Die Entscheidung, ob ein Patient ein bestimmtes teueres Medikament bekommt, trifft in der Regel der behandelnde Arzt. Doch die Schweizer Mediziner fühlen sich in der Rolle als „Herren über Leben und Tod” gar nicht wohl. „Wir brauchen endlich eine Regelung auf Bundesebene, die auch von der Bevölkerung getragen wird”, meint Reto Steiner von der Verbindung der Schweizer Ärzte.

Er betont, daß die Krankenhausärzte bei ihren Entscheidungen für oder gegen eine kostspielige Behandlung nicht nur die Heilungschancen berücksichtigen, ’sondern auch soziale Indikatoren wie alter oder Familienstand. „Wenn sie zwei sehr teuere Eingriffe haben – bei einem zwölfjährigen und einem 72jährigen Patienten – und sie können aus Kostengründen nur einen vornehmen, dann werden sie wohl den Zwölfjährigen operieren”, sagt Steiner.

Daß die Baseler Klinikleitung im Falle des 70jährigen nicht zulassen wollte, daß die Angehörigen des Betagten die Behandlungskosten übernehmen, findet er völlig richtig. Es könne nicht angehen, meint er, daß das Überleben eines Menschen in einem Land wie der Schweiz von seinem Geldbeutel abhänge.

Der Direktor des Bundesamtes für Sozialversicherung in Bern, Otto Piller, ist der Meinung, daß auch sehr teure Präparate in einem reichen Land wie der Schweiz keinem Patienten verweigert werden dürften. Ein weiterer Anstieg der Kassenbeiträge erscheint aber politisch kaum durchsetzbar. – Daher zeigt sich die Schweizer Ärzteschaft überzeugt, daß man um eine Rationierung von Leistungen langfristig nicht herumkommen wird. Rationalisierungs-Maßnahmen wie in Deutschland reichten nicht, meinen die Eidgenossen.

Veröffentlicht in: CARE konkret
2. Jg. / Heft 4 / 29. Januar 1999
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