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Methusalem als Vorbild
Wird der § 3 SGB XI zu wenig bedacht?

Gott hat den Menschen nach seinem Ebenbild geschaffen, so steht es in der Bibel. Der Mensch zieht daraus den Umkehrschluß und bildet sich ein, gottähnlich zu sein. Hier ist nicht das Forum für tiefschürfende theologische Haarspaltereien; betrachten wir aber dennoch zwei besonders folgenreiche Auswüchse dieses Dünkels. Der Mensch will nicht ortsgebunden sein, sondern - Gott gleich - ubiquitär, das heißt, überall zugleich. Seine übersteigerte Reisesucht zieht zwar unermeßliche globale Umweltschäden nach sich, stillt aber trotzdem nicht die zugrundeliegende Unrast.

Noch viel folgenreicher ist es aber, daß sich der Mensch zum Herren über Leben und Tod zu machen versucht. Letzteres haben wir Deutsche leider zu unrühmlicher Perfektion entwickelt, als wir Millionen Unschuldiger zu Untermenschen erklärten, und „ins Gas“ schickten. Euthanasie! Dieses unselige Erbe erschwert sicher noch auf Generationen hinaus jede sachliche Diskussion über einen würdigen und möglichst schmerzfreien Tod.

Den Tod empfindet der heutige Mensch in der Regel als unzumutbare Störung des Normalfalls, nämlich des Lebens. Völlig vergessen scheint das Wissen früherer Generationen, daß „das“ Leben als solches zwar weitergeht, aber eben nicht das eigene. Kinder und Kindeskinder sorgten für die tröstliche Kontinuität und lenkten den Blick vom eigenen Ich ab. Aber Kinder sind ja „out“...

Als individuellen Trost wußte sich der Mensch geborgen in der Verheißung der Wiederauferstehung, die man früher wie selbstverständlich für bare Münze nahm. Heutzutage ist es nur noch eine Minderheit, die sich nur als „Gast auf Erden“ sieht, und getrost dieses Erdenleben hinnimmt, wie es gerade kommt. Zu beneiden die Menschen, die so in ihrem Glauben verwurzelt sind, aber Glauben kann man bekanntlich weder verordnen noch erzwingen; Glauben ist eine Gnade.

Dieses Glaubens verlustig gegangen findet sich der Mensch schon überhaupt nicht mit dem naturgesetzlich vorgegebenen Gang des Lebens ab, dem Werden und Vergehen. Der Tod wird nicht mehr als natürlicher Abschluß des Erdenweges gesehen, sondern als Betriebsunfall, den es zu beheben gilt. Sicher, wenn ein Kind verunglückt, wird man alles in Bewegung setzen, um es wieder gesund zu machen. Auch das Neugeborene hat ein Anrecht auf das Überleben seiner Mutter, die den Komplikationen einer Problemschwangerschaft zum Opfer zu fallen droht.

Leidet jemand an einer erworbenen oder angeborenen Krankheit, so ist die Gesellschaft in unserem reichen Lande normalerweise sofort bereit, diese Krankheit zu behandeln oder wenigstens durch Übernahme der Folgekosten zu mildern. Diese Solidarität gereicht unserer Volksgemeinschaft zweifellos zur Ehre, wenngleich ein gewisser Egoismus dahinterstehen mag, profitiert doch jeder Einzelne davon, wenn es ihn trifft.

Diese allumfassende Bekämpfung des Todes führt sich aber irgendwann selbst ad absurdum. Mag es unbestreitbar richtig sein, einem Fünfzig- oder Sechzigjährigen einen Herzschrittmacher einzusetzen, so kann durchaus darüber diskutiert werden, ob ein siebzigjähriger Alkoholiker Anspruch auf eine Ersatzleber hat. Wo ist die jeweilige Grenze? Wer hat „Anspruch“ auf ein künstliches Hüftgelenk, eine Herztransplantation, und wann ist „Sense“? So berechtigt diese Fragen auch sein mögen: jeder Versuch einer Antwort kommt m. E. einer Gotteslästerung gleich, denn der Antwortende macht sich letztlich zum Herren über Leben und Tod. Wer schaltet die Maschine ab?

Es ist heute unmöglich und wird es auch in Zukunft sein, über das Schicksal von Menschen zu entscheiden, ohne selbst Zweifel und Schuld auf sich zu laden. Billige und allgemein gültige Antworten gibt es nicht, wird es auch nie geben...

Nicht ohne Hintersinn habe ich mich auf Umwegen der zentralen Frage genähert: wie endet normalerweise das Leben eines Menschen in der heutigen Zeit? Früher starb man meist so „rechtzeitig“', um nicht die Malesten des Alters kennenlernen zu müssen. Damals wurden nur sehr wenige Menschen älter als vielleicht fünfzig Jahre, und schon ein vereiterter Zahn mit folgender Blutvergiftung konnte das Ende bedeuten, das man als gottgegeben hinzunehmen hatte.

Heute dagegen ist fast jede Traueranzeige für einen 70jährigen garniert mit dem Trauerspruch „viel zu früh...“. Sicher, er selber hätte wohl noch gern ein Weilchen gelebt, und auch seine Familie hätte ihn - wenn möglich - noch dabehalten; aber, wo ist das Limit?

Machen wir uns doch nichts vor: irgendwann beginnt der restliche Sand aus dem Meßgerät unseres Freundes Hein davonzurinnen, und alles Sträuben hilft nichts mehr. Wir müssen wohl erst schmerzhaft wieder begreifen, daß das Sterben die ganz normale Erfüllung unseres Lebensweges ist, und daß jedes Aufbäumen gegen diese Tatsache nicht nur sinnlos ist, sondern uns den Abschied auch noch zusätzlich erschwert.

Wie schon gesagt, Altern und der Tod werden von unserer Leistungsgesellschaft quasi als Betriebsunfall eingestuft, den es mit allen nur denkbaren Mitteln zu bekämpfen gilt. Probleme damit? Probleme werden heutzutage „entsorgt“, genau wie Sondermüll oder Kernbrennstäbe. Auch Oma und Opa werden „entsorgt“; ab ins Pflegeheim, und schon ist das Haus wieder paletti.

Diese Mentalität hat aber zwei Haken: den alten Menschen verfügbar zu machen wie ein lästiges Abfallprodukt, ist denkbar herzlos und wird in Zukunft bestimmt nicht mehr so unwidersprochen hingenommen werden, wie noch heute.

Das andere Argument ist das finanzielle. Bei den heute explodierenden Kosten für Altersheim- oder gar Pflegeheimplätze wird die Abschiebung unserer Senioren kaum noch finanzierbar sein. (Ein finanzielles Argument, das natürlich hinter die menschlichen Aspekte zurückzutreten hat...) Aber wer soll künftig 3.000,- Mark und mehr im Monat für ein Heim aufbringen? Können wir die Altersvorsorge zum einzigen Dreh- und Angelpunkt unseres Lebens machen?

Längst vorbei sind ja die Zeiten, wo die Kosten einer Unterbringung im Altersheim nicht mehr waren als ein angemessener Beitrag zu den tatsächlich angefallenen Aufwendungen. Heute sind Alters- und erst recht Pflegeheime zu einer regelrechten Industrie ausgeartet. Ob die Leistungen dabei in angemessenem Verhältnis zu den geforderten Preisen stehen, sei dahingestellt. Besonders interessant ist unter diesem Aspekt § 3 des SGB (XI), wo es wörtlich heißt: „Die Pflegeversicherung soll mit ihren Leistungen vorrangig die häusliche Pflege und die Pflegebereitschaft der Angehörigen und Nachbarn unterstützen, damit die Pflegebedürftigen möglichst lange in ihrer häuslichen Umgebung bleiben können."

Was ist daraus zu folgern? Auch der Gesetzgeber hat erkannt, daß der Mensch - erst recht der alte Mensch - nicht nach Belieben herumgeschubst und verpflanzt werden kann. Man hat begriffen, daß man nicht jede Hilfestellung für Hilfsbedürftige bis zum Exzess kommerzialisieren kann, schon weil das unbezahlbar würde. Jeder Exzess führt überdies früher oder später zur Gegenreaktion.

Auch wenn das in der augenblicklichen Argumentation unterzugehen droht: der Gesetzgeber hat erkannt, daß man Wege suchen muß, die eine kostengerechtere Absicherung des Risikos der Pflegeabhängigkeit im Alter ermöglichen, ohne daß dies zu Lasten der Pflegebedürftigen geht. Ein wichtiger Schritt dahin wird die Erneuerung des Generationenvertrages sein, der die Eigenleistung der Angehörigen wieder mehr in die Pflege alter Menschen mit einbezieht.

Hier aber schließt sich der Kreis zu den einleitenden Überlegungen. Vorrangig müssen wir alle lernen, uns wieder unvoreingenommen mit dem Altern und dessen Folgen abzufinden, und uns innerhalb des Familienverbandes damit auseinanderzusetzen.

Anschrift des Verfassers: Dipl.-Kfm. Kurt R. B. Wanke,
Am Weinberg 31, 97076 Würzburg,
Tel. 09 31/27 45-70, Fax 09 31/27 45-60

Zum Verfasser: Der 6Ojährige Würzburger Diplomkaufmann Kurt R. B. Wanke ist nach einem Arbeitsunfal1 1985 querschnittgelähmt und befaßt sich seit seiner Rehabilitation im Klinikum Bayreuth mit der Entwicklung von Behindertenhilfsmitteln, auf die er inzwischen mehrere, z. T. weltweite Patente besitzt. Überdies ist er stark im journalistischen Bereich engagiert und schreibt vor allem zu Fragen der Integration Behinderter und deren Lebensumfeld.

Veröffentlicht in: Bayrischer Wohlfahrtsdienst
Mitteilungsblatt der Arbeitsgemeinschaft der öffentlichen und freien Wohlfahrtspflege in Bayern
Blatt Nr. 6, Juni 1998, 50. Jahrgang