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Pflegemanagement - Hippocrates und Sisyphus
Die moderne Medizin als Opfer ihres eigenen Erfolges

„Kostenexplosion” und „Kostensenkung”, „Rationalisierung” und „Rationierung” – so lauten nur einige der Schlagworte, die derzeit die Diskussion um unser Gesundheitswesen bestimmen. Was ist dran an dieser Diskussion? Was belegen die Zahlen, wo liegen Trugschlüsse vor? Der folgende Beitrag von Prof. Dr. Walter Krämer geht diesen Fragen nach und gelangt dabei zu ganz unkonventionellen Antworten. Erstmals erschienen ist der Beitrag in dem Buch „Rationierung im Gesundheitswesen. Forschungsverbund Public Health Sachsen”, Regensburg 1997, herausgegeben von W. Kirch und H. Kliemt, S. 7 – 19. Mit freundlicher Genehmigung vom S. Roderer Verlag wird der Beitrag in dieser BALK-info erneut veröffentlicht.

Für einen Statistiker bzw. Ökonom ist es durchaus nicht selbstverständlich, daß man über Dinge zu Wort gebeten wird, die traditionsgemäß die Angelegenheit von Ärzten und Heilberufen sind. Auf der anderen Seite können aber die Heilberufe von einer solchen Einmischung durchaus profitieren, denn Außenseiter haben auch ihr Gutes. Z.B. sind sie eher vor Betriebsblindheit geschützt, und können gerade aus ihrer Außenseiterposition für Insider ganz nützlich sein.

Im Rahmen dieses Beitrags werde ich aus dem Blickwinkel der Ökonomie meinen Standpunkt zur Unausweichlichkeit von Rationierung im Gesundheitswesen darlegen. Denn genau das ist die These, die im weiteren noch näher ausgeführt wird: Daß die moderne Medizin durch die enormen Erfolge in ihrer Rolle als biologisch-technischer Reperaturbetrieb unter ebendiesem eigenen Erfolg zusammenbricht, und daß als Folge dieses Erfolges Rationierung unausweichlich wird. Es wird im folgenden von „Rationierung” gesprochen, denn genau das kommt in Zukunft auf uns zu: Nicht nur Rationalisierung, sondern ganz dezidiert auch Rationierung, eine mehr oder weniger drastische Begrenzung der Ausgaben im Gesundheitswesen, obwohl durchaus noch weitere Mittel sinnvoll eingesetzt werden könnten.

Will man diesem Thema gerecht werden, kann es nicht darum gehen, Werturteile zu fällen, sondern zunächst einmal nur Fakten darzustellen, für die der Ökonom genausowenig verantwortlich ist wie alle anderen Beteiligten. Es gilt zu konstatieren, statt zu plädieren. Es sollte daher auch nicht wie im alten Griechenland der arme Bote sein, der für die böse Botschaft zu büßen hat. Die These lautet nicht: Die Medizin soll rationiert werden, sondern die Medizin wird rationiert werden. Es wird hier nicht von dem geredet, was sein soll, sondern von dem, was sein wird. Und das ist ein großer Unterschied. Denn das eine ist ein Wunsch oder ein Werturteil, das andere eine völlig wertneutrale Feststellung einer Tatsache, für die ein Ökonom genausowenig etwas kann, wie etwa ein Klimaforscher für das Ozonloch etwas kann. Und genausowenig wie ein Klimaforscher beschimpft wird, der sagt: Über der Antarktis gibt es ein Ozonloch, genausowenig darf ein Statistiker beschimpft werden, der sagt: In der modernen Medizin gibt es ein Bedarfsloch, einen Überhang des theoretisch Machbaren über das praktisch Finanzierbare, denn in beiden Fällen wird völlig wertneutral allein ein Faktum konstatiert.

Heute in 100 Jahren

Zur Erläuterung dieser zentralen These soll ein weiteres Faktum angeführt werden, das eines der großen Tabuthemen unserer modernen Genußgesellschaft ist. Dieses Faktum ist, daß heute in 100 Jahren jeder unser heutigen Mitmenschen von Würmern aufgefressen ist. In 100 Jahren sind wir alle tot, einer wie der andere, und zwar ganz egal, wieviele Milliarden auch immer wir in das Gesundheitswesen pumpen. Das können wir verdrängen oder ignorieren, aber ändern können wir es nicht. Das ist Faktum Nr. 1.

Als Faktum Nr. 2 hat aber die moderne Medizin ein riesiges Arsenal früher unbekannter Möglichkeiten geschaffen, dieses unerfreuliche Ereignis aufzuhalten. Zur Illustration dazu einige einschlägige neuere Schlagzeilen aus der deutschen Tagespresse:

Vergleicht man das einmal mit der Medizin von vor 30 oder gar von vor 50 Jahren, können wir feststellen, wie der Horizont des Machbaren, des medizinisch sinnvoll Machbaren, um das klarzustellen, wie dieser Horizont sich ausgeweitet hat.

Explosion des Machbaren

Als Konsequenz dieser Explosion des Machbaren ist es aber heute nicht mehr möglich, jedem Kranken und Patienten eine Versorgung nach dem letzten Stand der Technik anzubieten. Das ist eine Tatsache, die zunächst einmal sine ira et studio einfach als solche zu konstatieren ist. Eine im medizinischtechnischen Sinne optimale Medizin für alle ist heute völlig illusorisch – genau könnte man verlangen, daß die Elbe bergauf in Richtung Tschechien fließen soll. Wieso nun ist eine optimale Medizin für alle heute eine Illusion? Um das zu zeigen, soll zunächst vor zwei Trugschlüssen gewarnt werden, mit denen viele glauben, sich aus diesem Dilemma herausmogeln zu können.

Der erste Trugschluß ist das Schlagwort von der „Kostenexplosion”. Denn diese „Kostenexplosion” ist doch in Wahrheit keine Kosten-, sondern aller Korruption und Mißwirtschaft zum Trotz vor allem eine Effizienz- und Leistungsexplosion. Ausgaben sind nämlich immer das Produkt von Preis und Menge, und wenn die Ausgabenexplosion der 70er und 80er Jahre einmal auf diese beiden Komponenten aufgeteilt werden, ist festzustellen, daß nicht die Preise, sondern ganz klar die Mengen der Hauptmotor gewesen sind.

Betrachten wir die Arzneimittelverordnung: Vielleicht sind Medikamente hierzulande wirklich überteuert. Betrachtet man aber allein die Preise im Zeitverlauf, d.h. die Änderungsraten und nicht das Niveau, kann von einer Inflation der Preise keine Rede sein. Die reinen Preise der Arzneimittel sind in den vergangenen Jahrzehnten im Gegenteil fast durchweg langsamer gestiegen als der allgemeine Preisindex. Wenn trotzdem unsere Arzneimittelausgaben so explodieren, so erstens, weil wir rein mengenmäßig immer mehr davon verbrauchen, wobei ich hier offenlassen will, ob das wirklich nötig ist, und zweitens, weil ständig neue Arzneimittel auf den Markt kommen, die früher auf keiner Rechnung vorgekommen sind.

Oder nehmen wir die Zahnmedizin. Ein Zahnarzt in den alten Bundesländern bekam 1975 für einen gezogenen Zahn 9,70 DM Honorar, wenn meine Quellen stimmen, 1985, also zehn Jahre später, 12,05 DM. Das ist ein Anstieg in 10 Jahren von 24 Prozent. In der gleichen Zeit stieg etwa der Preis eines Haarschnitts beim Friseur um durchschnittlich 75 Prozent, also mehr als dreimal soviel. Trotzdem haben Zahnärzte eine Villa in Tessin, Friseure aber nicht. Das liegt aber nicht daran, daß ein konkretes Produkt dramatisch teurer wird, sondern daß die Produkte selber immer mehr und immer besser werden, in der Zahnheilkunde wie im ganzen Rest der Medizin.

Ein weiteres Beispiel ist die Entwicklung des Krankenhausbereiches. Obwohl hier ein Pflegetag 1995 drei- bis viertausend Prozent teuerer ist als ein Pflegetag etwa 1955, kann man das nicht als Preisexplosion bezeichnen. Denn ein Pflegetag 1995 ist doch etwas anders als ein Pflegetag 1955, es ist zumindest zu hoffen, vor allem wenn man die medizinische-, medizintechnische Entwicklung berücksichtigt! Wer aber früher einen VW-Käfer fuhr und sich heute einen Mercedes leistet, darf auch nicht darüber klagen, daß der Preis des Fahrzeuges gestiegen ist. Hier von einer „Kostenexplosion” zu reden, wäre offensichtlich wenig angebracht. Dem nächsten Krankenkassenfunktionär, der über hohe Pflegesätze klagt, sollte man eine Behandlung für 12 Mark am Tag anbieten, wie im Jahr 1955, aber auch mit den Geräten, dem Personal und dem medizintechnischen Wissen von dazumal, ohne Intensivstation und Computertomographie, ohne Herzschrittmacher, Dialyseautomaten oder moderne Antibiotika, ohne Ultraschall und Wehenschreiber und wie die Wunderdinge alle heißen, von denen man damals bestenfalls nur träumen konnte. Es bliebe abzuwarten, ob jemand auf diesen Handel eingehen wird.

Das englische „Office of Health Economics” hat einmal ausgerechnet, wieviel wir heute für die Gesundheit ausgeben müßten, wenn sich die Medizin seit 100 Jahren nicht geändert hätte. Ergebnis: etwa ein Prozent des gegenwärtigen Budgets. Mit anderen Worten, statt 400 Milliarden Mark wie im letzten Jahr bei uns in Westdeutschland nur rund 4 Milliarden Mark. Soviel und nicht mehr würde heute die Medizin der Jahrhundertwende kosten. Die restlichen 396 Milliarden Mark, wenn man dieser Überschlagsrechnung einmal glaubt, die restlichen 396 Millionen Mark gehen ausschließlich und allein auf das Konto von Dingen, die es damals noch nicht gab.

Das Prinzip ist also nur allzu einfach: Was nicht existiert, das kostet auch nichts. Das fängt bei Kontaktlinsen an, und hört bei Kernspintomographen auf, und das unterscheidet die Medizin z.B. von der EDV. Auch die EDV hat ja in den letzten Jahrzehnten einen rasanten Fortschritt mitgemacht, der aber die Datenverarbeitung nicht verteuert, sondern ganz enorm verbilligt hat. Der Grund ist, daß der Fortschritt in der EDV vor allem sogenannte „Ersatztechnologien” produziert, also Verfahren, womit eine gegebene Leistung wie etwa die Addition von 1 und 1 effizienter und damit auch billiger herzustellen ist.

Solche Ersatztechnologien gibt es in der Medizin zwar auch, aber nur am Rand. Hier dominieren ganz eindeutig die sogenannten „Zusatztechnologien”, also Verfahren, die etwas bis dato prinzipiell unmögliches auf einmal möglich machen. Zusatztechnologien wie Organverpflanzungen oder Operationen am offenen Herz erzeugen aber erst einen Bedarf, der vorher allenfalls latent vorhanden war, und die meisten medizinischen Fortschritte sind genau von diesem Typ. Solange es moderne Medikamente und künstliche Hüftgelenke noch nicht gab, bestand auch kein Bedarf danach, oder zumindest kein kassenwirksamer Bedarf. Erst ab dem Moment, wo eine neue Technik praktikabel wird, entsteht auch ein Bedarf danach.

Fortschritt als Kostentreiber

Der große Kostentreiber des modernen Gesundheitswesens sind also nicht die Gesundheitsberufe oder die Pharmaindustrie, auch nicht die Patienten oder Krankenkassen, trotz aller Kleinkriminalität, die es hier an allen Ecken und Enden nur zu offensichtlich immer wieder gibt, der große Kostentreiber ist der medizinische Fortschritt selbst. Unser Gesundheitswesen war früher preiswerter, nicht weil die Menschen gesünder, die Ärzte bescheidener oder die Preise niedriger waren, sondern weil es all die teuren Wunderdinge, die heute die Kassenbudgets belasten, damals noch nicht gab.

Darüber hinaus ist die moderne Medizin aber noch in einem weiteren Sinn zum Opfer ihres eigenen Erfolges geworden, und das wird häufig übersehen, wahrscheinlich, weil wir es nicht sehen wollen: Erstens macht sie das Gesundheitswesen nicht billiger, sondern teurer (oder anders ausgedrückt: Preisstopp ist sinnlos, weil die Preise überhaupt nicht steigen), und zweitens macht Sie die Menschen im Durchschnitt nicht gesünder, sondern kränker, und auch das meine ich vollkommen im Ernst, wenn auch in einem ganz anderen Sinn als unsere progressive Presse gerne glaubt. Es ist damit vielmehr folgendes gemeint, das am besten durch ein Zitat eines alten Klinkers deutlich wird: Früher hatten wir es einfach. Da war der Patient nach einer Woche entweder gesund oder tot.

Das ist heute anders. Heute ist der typische Patient nach einer Woche weder gesund noch tot. Heute hält die Medizin im Gegensatz zu früher ein großes Arsenal von Abwehrwaffen vor, aber dies sind zu einem großen Teil, wie die Amerikaner sagen, nur „halfway-technologies”: Sie halten uns zwar am Leben, aber machen uns nicht komplett gesund. Das ist zwar kein hundertprozentiger, aber trotzdem ein Erfolg, um das ganz klarzustellen, aber trotzdem haben wir damit das nächste Paradox. Denn ohne die moderne Medizin wären vermutlich viele schon lange tot, aber die Überlebenden dafür im Durchschnitt – ich betone: im Durchschnitt – eher gesünder als sie es heute sind.

Dieses Faktum ist, um das noch einmal zu wiederholen, daß die moderne Medizin den Durchschnitt aller Überlebenden heute nicht gesünder, sondern kränker macht. Lassen Sie mich diesen zentralen Punkt an einem Beispiel verdeutlichen: Angenommen, jeder Theaterbesucher, der weniger als einen bestimmten Geldbetrag mit sich führt, nehmen wir einmal eine große Summe, sagen wir einmal weniger als tausend Mark, muß das Theater verlassen. Wieviel Geld haben die anderen, die Zurückbleibenden dann im Durchschnitt in der Tasche? Nun, in jedem Fall doch mehr als tausend Mark! Das muß per Konstruktion so sein, den alle, die weniger haben, sind ja nicht mehr hier.

Jetzt senken wir diese kritische Grenze von eintausend auf einhundert Mark. Das hat zwei Konsequenzen: Erstens bleiben mehr Menschen im Saal, und zweitens haben diese im Durchschnitt weniger Geld dabei. Das Vermögen der Stammbesatzung bleibt zwar gleich, aber der Durchschnitt sinkt, weil jetzt viele Personen neu dazukommen, die vorher nicht dabei gewesen sind. Dieses Spiel kann man beliebig weitertreiben: Bei einer Grenze von zehn Mark bleiben noch mehr Menschen hier, die aber im Durchschnitt nochmals ärmer sind, und genau diesen Effekt hat grob gesprochen, wenn man Geld mit Gesundheit vertauscht, auch die moderne Medizin. Sie gibt vielen, die ohne sie den Saal hätten verlassen müssen, quasi eine Aufenthaltsverlängerung.

Diese massenhaften Aufenthaltsverlängerungen, haben zum Beispiel den Effekt, daß es heute rund 10 Millionen Schwerbehinderte in Deutschland gibt. Jeder dritte Deutsche hat heute eine Allergie, jeder vierte ist schwerhörig, 2 Millionen haben Rheuma, 3 Millionen chronische Bronchitis, 5 Millionen Dauerschmerzen, 6 Millionen Gallenstein, plus weitere Millionen Leberkranke, Epileptiker, Alkoholiker, Phobie-Patienten, Eßgestörte usw., die zu einem guten Teil ihr Leben der modernen Medizin verdanken.

Nehmen wir Nierenversagen. Wir haben in Deutschland mit die höchsten Raten an Nierenkranken in der ganzen Welt, aber nicht, weil unsere Medizin so schlecht ist, sondern weil sie so gut ist. Hätten wir nicht die weltweit vorbildlichen Möglichkeiten der künstlichen Blutwäsche für alle, die sie brauchen, gäbe es heute bei uns sehr viele Nierenkranke weniger. In England z.B. gibt es nur rund 100 Nierenkranke pro eine Million Einwohner, verglichen mit mehr als 200 in der Bundesrepublik, aber nicht, weil in England diese Krankheit seltener auftritt, sondern weil dort kaum ein Nierenkranker seinen 60ten Geburtstag überlebt. Ein anderes Beispiel ist der Diabetes. Heute gibt es rund 2 Millionen Zuckerkranke in der Bundesrepublik, mehr als 10 mal soviel wie zu Zeiten Röntgens oder Kochs. Das liegt aber nicht an der Unfähigkeit der Medizin, sondern daran, daß vor 60 Jahren das Insulin erfunden wurde. Auch hier das gleiche Resultat – und ich bitte Sie inständig, dies genauso zu interpretieren, wie es gemeint ist, nämlich als reine und völlig wertneutrale Feststellung einer Tatsache: Ohne medizinsichen Fortschritt wäre der Durchschnitt der Überlebenden heute gesünder.

Beispiele gibt es genug, ohne weiter in die Einzelheiten zu gehen. Der Punkt ist einfach der, auch nach Aussage des Präsidenten der deutschen Bundesärztekammer, daß es, je besser die Medizin ist, umso mehr Kranke geben wird. Der moderne Arzt ist also weniger ein weißer Engel, der uns die Tür zum ewigen Leben aufschließt, als vielmehr ein neuer Sisyphus, dessen Mühen und Sorgen mit jedem Erfolg nur immer größer werden. Es ist daher auch eine absolute Illusion zu glauben, daß ein medizinisch effizienteres Gesundheitswesen uns als Kollektiv gesünder macht. Der einzelne Patient ja, aber der Durchschnitt der Überlebenden nein. Die große Gleichung „Mehr Geld = Mehr Gesundheit” ist ganz eindeutig falsch. Genauso könnten Sie versuchen, einen Brand zu löschen, indem Sie Benzin hineinschütten. Je mehr die Medizin sich anstrengt, desto kränker werden wir, die moderne Medizin sitzt ein für allemal in einer großen Fortschrittsfalle fest.

Irrweg „Prävention”

Bevor die nächste Möglichkeit betrachtet wird, diesem Dilemma auf humane Weise zu begegnen, sollte jedoch noch vor einem Irrweg gewarnt werden, den viele für einen Ausweg aus dieser Falle halten, der aber die moderne Kluft zwischen Verheißung und Erfüllung im Gesundheitswesen leider auch nicht überbrückt. Dieser Irrweg, zumindest was Kostendämpfung betrifft, heißt „Prävention statt Therapie”. Der Grund für eine Skepsis ist ebenso trivial wie unangenehm. In einem englischen Andenkenladen habe ich dazu einmal einen Aufkleber mit folgendem Spruch gesehen: „If you give up drinking, smoking and sex, you don’t live longer. It just seems like it”.

Das ist natürlich falsch, denn Nichtraucher leben nicht nur subjektiv, sondern auch objektiv länger als andere, enthält aber trotzdem einen wahren Kern. Denn auch Nichtraucher müssen sterben, genau wie Müsli-Freunde oder Anti-Alkoholiker, und eine per Prävention verhinderte Krankheit macht uns leider nicht unsterblich, wie viele Präventionsverliebte offenbar zu glauben scheinen, sondern in erster Linie doch nur Platz für eine andere.

Die letztendliche Sterblichkeitsrate bleibt immer 100 Prozent, da kann die Medizin machen was sie will. Sterben wir nicht an Krebs A, dann an Krebs B, und sterben wir nicht an Krebs, dann an Alzheimer und Herzinfarkt, und damit bin ich auch schon bei den Kosten angelangt. Denn ob die erfolgreiche Prävention einer bestimmten Krankheit das Gesundheitsbudget entlastet oder nicht, hängt doch offenbar entscheidend davon ab, was billiger ist: die verhinderte Krankheit oder die, die man stattdessen kriegt. Das kann man nicht am grünen Tisch entscheiden, aber es sind einige sehr seriöse Modellrechnungen bekannt, die bezüglich des rein ökonomischen Nutzen von noch mehr Prävention zu eher skeptischen Ergebnissen kommen.

Die berühmte Untersuchung von Leu und Schaub von der Universität Basel zu Rauchen und Gesundheitskosten in der Schweiz, die u.a. zu dem Ergebnis kamen, daß die Schweiz langfristig eher mehr statt weniger für die Gesundheit ausgeben müßte, wenn es dort seit hundert Jahren keine Raucher gäbe. So paradox das auf den ersten Blick auch klingt, aber das Gesundheitswesen würde durch ein totales Rauchverbot nicht billiger, sondern langfristig nur noch teurer (weil nämlich die Kosten, die in den Extra-Lebensjahren des Nichtrauchers entstehen, die vorher gesparten Ausgaben mehr als aufwiegen). Wenn man also ernstnimmt, was man die letzten Monate zu Bonus-Malus beim Krankenkassenbeitrag liest, müßten den Rauchern kein Malus, sondern ein Bonus auf ihren Kassenbeitrag eingeräumt werden (was, nebenbei bemerkt, auch die beste Methode wäre, sie von diesem Laster ein für allemal zu heilen).

Unter reinen Kostenaspekten – abgesehen davon daß es noch andere Aspekte als die Kosten gibt – aber unter reinen Kostenaspekten ist Prävention in der Regel ein Verlustgeschäft. Selbst in der Zahnmedizin, wo die Kostenargumente mich noch am ehesten überzeugen, sind die pro-Argumente längst nicht so wasserdicht wie viele glauben, denn die kurativen Eingriffe werden durch eifriges Zähneputzen ja nicht prinzipiell verhindert, sondern nur ein paar Jahre aufgeschoben. Statt mit 40 bekommt man sein Gebiß dann eben mit 60, aber zahlen muß die Kasse so wie so.

Damit es in diesem wichtigen Punkt nicht zu Mißverständnissen kommt: Es gibt überhaupt nichts gegen gesundes Leben und freiwillige Prävention einzuwenden. Auch wenn Prävention keine Kosten spart, kann sie ja trotzdem sinnvoll sein, und in der Regel ist sie das ja auch. Bedenken sind daher auch weniger zum ob, sondern mehr zum wie der Prävention angebracht. Prävention verlangt nämlich nach Zwang. Freiwillig hat sie auf dieser schönen Erde noch niemals lange funktioniert, so daß hinter dem Zuckerbrot, mit dem man uns gesundes Leben schmackhaft machen will, meist eine große Peitsche droht. Darüber kann auch die bekannte Kundenfänger-Kampagne der Ortskrankenkassen mit dem Motto „Prävention macht Spaß” nicht hinwegtäuschen. Prävention macht nämlich durchaus keinen Spaß. Mir jedenfalls nicht. Ich muß mich zum Zähneputzen genauso zwingen wie zur Frühgymnastik oder zum Verzicht auf ein weiteres Glas Wein, wenn es mir gerade besonders gut schmeckt.

Hinterteil mit TÜV-Stempel?

Auch nach liberalster Grundhaltung sind bestimmte Zwangsmaßnahmen durchaus einzusehen. Das ist z.B. immer dann der Fall, wenn Prävention sogenannte „externe Effekte” hat, wie das im Fachjargon der Ökonomen heißt. Ein Paradebeispiel sind Schutzimpfungen, denn hier schützt man durch Prävention nicht nur sich selbst, sondern auch andere. Hier ist die Frage „Prävention ja oder nein” eben nicht jedermanns eigenes Bier, hier ist auch nach dem liberalen Credo Zwang durchaus erlaubt. Aber es ist auch in der Tagespresse mit folgenden Schlagzeilen zu lesen wie „Krebsärzte fordern: Vorsorge als Pflicht”, und das geht mir eindeutig zu weit. An Krebs hat sich schließlich meines Wissens noch niemals jemand angesteckt. Hierher gehört auch der von manchen Medizinern hierzulande propagierte Zwangs-„Gesundheits-Check-up” alle zwei Jahre für alle Versicherten, ob sie wollen oder nicht. Auch hier ist das Motiv zu loben, die Methoden aber weniger. Dann fehlte nämlich nur noch der TÜV-Stempel auf dem Hinterteil, und ehe wir bis drei zählen können, hätten wir den totalen medizinischen Überwachungsstaat.

Aus einem Recht auf könnte nämlich sehr schnell eine Pflicht zur Gesundheit werden, wie in vielen totalitären Gesellschaften links wie rechts bereits gehabt. Die russische Wochenzeitung „Literaturnaja Gazeta” etwa klagte vor einigen Jahren darüber, daß 30 Prozent der russischen Kinder übergewichtig seien und daß ihre körperliche Verfassung nicht den Ansprüchen einer modernen Industrie und Armee genüge. Alles in allem müsse die Einstellung zur Gesundheit geändert werden, da diese kein Privateigentum sei, sondern dem Staat gehöre. Damit sind den Präventationsfreunden hierzulande durchaus keine totalitären Tendenzen zu unterstellen. Aber die Gefahr ist nicht von der Hand zu weisen. Hier kämpfen offensichtlich linke Zwangsbeglücker und rechte Paternalisten Hand in Hand, und steht der Liberale einsam in der Mitte.

Karl der Große soll zu seinen Ärzten gesagt haben, als diese ihm gebratenens Fleisch verboten, an dessen Stelle er gekochtes essen könne, sie sollten sich zum Teufel scheren. Was Karl dem Großen Recht war, sollte uns billig sein. Eine freie Gesellschaft wie unsere sollte sich im Zweifelsfall dazu durchringen, ihre Bürger nach eigener Fasson leben, aber auch nach eigener Fasson krank werden und sterben zu lassen.

Damit schließt sich der Kreis und wir sind wieder bei Ausgangsthese angelangt. Denn wie wir die Sache auch drehen und wenden, eine optimale Medizin für alle ist heute eine absolute Illusion. Stattdessen steuern wir unausweichlich, und ich betone: unausweichlich, auf eine Rationierung knapper Gesundheitsgüter zu. Wie auch immer wir die Decke strecken, sie bleibt auf jeden Fall zu kurz, die Kluft zwischen Verheißung und Erfüllung in der Medizin wird niemals verschwinden, es bleibt auf jeden Fall viel medizinisch Sinnvolles aus Kostengründen ungetan. Die Frage ist dabei auch schon längst nicht mehr, wie dieses Dilemma zu vermeiden ist, denn das wird bis zum Ende aller Tage mit uns sein, sondern nur noch, wie reagieren wir darauf. Dabei wären unter anderem die folgenden Prinzipien denkbar (von denen, um das gleich zu anfang klarzustellen, eines so suspekt ist wie das andere):

  1. Wir verteilen auf der Titanic die Rettungsboote nur noch an die erste Klasse. In den USA z.B. hat man ohne dickes Bankkonto kaum eine Chance auf ein neues Herz. Außerdem sind überproportional viele Herz-Patienten männlich oder weiß, oder aus Saudi-Arabien. Mit anderen Worten, die großen Geldverdiener haben erstes Zugriffsrecht.
  2. Der „soziale Wert” bestimmt, wer leben darf und wer sterben muß. Das ist die Situation aus den Kindertagen der künstlichen Blutwäsche, als es noch nicht genug Dialysegeräte für alle Nierenkranken gab. Ein arbeitsloser Junggeselle zieht dann gegen einen seriösen Familienvater mit acht Kindern klar den kürzeren.
  3. Keine Herzverpflanzungen oder andere teure Therapien für Patienten ab einem bestimmten Lebensalter, wie heute schon in durchaus zivilisierten Ländern wie Großbritannien oder Schweden standardmäßig praktiziert. Wenn Sie etwa in England als über 65jähriger ein Nierenleiden entwickelten, machen Sie besser gleich ihr Testament.

Ich glaube, hier sind wir uns wieder alle einig: Solche Methoden können keine für Deutschland denkbaren Lösungsstrategien sein. Stattdessen plädiere ich für einen vierten Weg, der uns eine Bewältigung dieses Dilemmas auch ohne einen Rückfall in Methoden erlaubt, die ansonsten in der Veterinärmedizin zuhause sind, und mit diesem Ausblick will ich zum Ende meiner Überlegungen kommen.

Sparen auf der Planungsebene

Das Stichwort heißt dabei „Statistische versus individuelle Menschenleben”. Lassen Sie mich an einem Beispiel verdeutlichen, was ich damit meine. Angenommen, ein Schiff ist in Seenot. Keine Frage, daß zur Rettung der bedrohten Passagiere und Besatzung alles Menschenmögliche zu unternehmen ist. Meinetwegen mag dafür die gesamte deutsche Seenotrettungsflotte auslaufen, und die dänische und schwedische dazu. Bei einem individuellen, konkreten Menschenleben haben Kosten-Nutzen-Analysen keinen Platz. Ein konkretes Menschenleben ist kein ökonomisches Gut und hat daher auch keinen Preis. Punkt. Hier gibt es überhaupt nichts dran herumzudeuteln.

Heißt das aber, daß in jedem Nordseehafen zehn Seenotrettungskreuzer stationiert werden müssen? Ich glaube nein, und dieses Prinzip gilt auch im Gesundheitswesen. Auch hier sind zur Rettung konkreter Menschen keine Kosten und Mühen zu scheuen, Kostendämpfung hin oder her. Das heißt aber nicht, daß wir nicht vor Eintreten des Eventualfalls – ich betone: vor Eintreten des Eventualfalls die Kapazitäten beschränken dürften, denn das trifft keine konkreten Patienten, sondern nur die Wahrscheinlichkeit eines frühzeitigen Todesfalls nähme für alle Bundesbürger zu, und das ist ein ganz großer und zentraler Unterschied. Im amerikanischen New York z.B. hat man in den 80er Jahren eine geplante Spezialklinik für Brandverletzungen mit der Begründung abgelehnt, für die dadurch pro Jahr geretteten 12 Menschenleben wäre das Projekt zu teuer. Dabei stellt sich die Frage ob der damalige Oberbürgermeister Edmund Koch ein Massenmörder war?

Würde die Frage mit ja beantwortet werden, dann wäre auch Ex-Verkehrsminister Krause ein Massenmörder, weil er sich geweigert hatte, und völlig zu Recht, alle ostdeutschen Alleebäume abzuholzen, genauso wie Innenminister Kanther, weil er nicht schon längst gefährliche Sportarten wie Drachenfliegen oder Skifahren verboten hat, oder wie viele Verkehrspolitiker der Grünen, die sich gegen Umgehungsstraßen oder neue Autobahnen wehren.

Durch die eingesparte Brandklinik in New York wurden doch nicht 12 Bürger jährlich zum Tode durch Verbrennen verurteilt, auch wenn die Heilberufe das gerne so darstellen. Allein die Wahrscheinlichkeit, durch Brandverletzungen zu sterben, hat für jeden New Yorker um einen zehntausendstel Prozentpunkt zugenommen, und das ist ein großer Unterschied. Auch wer noch nie etwas von Wahrscheinlichkeitsrechnung gehört hat, ahnt doch instinktiv, daß es einen Unterschied macht, ob man ein Unfallopfer verbluten läßt, obwohl man ihm theoretisch helfen könnte, oder ob man beim Ampelbauen oder Verkehrsumleiten spart.

Dazu gibt es eine Meldung aus der Süddeutschen Zeitung vom März 1993: Schlagzeile: „Verzicht auf Rettungshubschrauber – Die Kassen sparen – Keine Station für die Oberpfalz”. Im Text heißt es dann weiter: „Neue Stationen für Rettungshubschrauber sollen in Bayern nach Angaben des Innenministeriums nicht mehr eingerichtet werden. Damit hat die Oberpfalz keine Chance mehr, einen solchen Standort zu bekommen. Die Kassen seien trotz intensiver Bemühungen von Innenminister Edmund Stoiber nicht bereit gewesen, die Betriebskosten von jährlich 1,5 bis 3,5 Millionen Mark zu übernehmen.”

Je nach dem eigenen Blickwinkel läßt sich das Verhalten der Krankenkasse unterschiedlich bewerten. Meiner Meinung ist Herr Sitzmann von der AOK oder wer immer bei den Kassen diese Sache damals zu vertreten hatte, durchaus zu dieser Weigerung berechtigt. Einen Rettungshubschrauber nicht zu stationieren ist das gleiche wie eine Ampel nicht zu bauen oder ein Radargerät am Flugplatz einzusparen, denn hier stehen allein statistische Menschenleben zur Debatte, genau wie im Umweltschutz und bei der Verkehrsplanung, und deshalb ist auf dieser Ebene auch im Gesundheitswesen Rationierung ethisch anwendbar.

Ein letztes Beispiel: Es ist eine Tatsache, daß jedes Jahr in Deutschland mehr als tausend Menschen sterben, nur weil sie sich keinen Mercedes leisten können. Die Wahrscheinlichkeit, bei einem Verkehrsunfall zu sterben, ist für Kleinwagen je nach Marke bis zu zehnmal größer als für Daimler-Benz, aber trotzdem liegt es wohl den meisten fern, für jeden erwachsenen Bundesbürger einen Daimler-Benz auf Krankenschein zu fordern (denn solange wir dem Sensenmann allein statistische gegenüberstehen, darf man nach meinem Weltbild die Gefahr einer Begegnung auch mit Geld begrenzen). Aber wenn das Auto gegen den Baum gefahren ist und der Rettungswagen kommt, dann sollen der Mercedes- und der Fiat-Fahrer gleiche Chancen haben.

Wie auch immer wir die knappen Gesundheitsgüter verteilen, ob per Versteigerung an den Meistbietenden, ob über Warteschlangen, staatliche Zuteilung oder, wie ich hier vorgeschlagen habe, durch Sparen auf der Planungsebene, daß rationiert werden muß, steht fest. Wir haben überhaupt nicht mehr die Wahl. Durch die enormen Erfolge der Vergangenheit hat die moderne Medizin sich selbst und die Gesellschaft als ganzes in eine regelrecht tragische Situation geführt, in der es wie in einer griechischen Tragödie nur sehr schwer einen ehrenvollen Ausweg gibt (...)

Prof. Dr. Walter Krämer

Veröffentlicht in: BALK
Herausgeber: Bundesarbeitsgemeinschaft leitender Krankenpflegepersonen e.V.
8. Jg. / Heft 28 / IV. Quartal 1997